Es ist acht Uhr morgens, Arbeitsbeginn. Doch es regnet, donnert und blitzt und ich sitze noch in meinem Zimmer, weil mein angepasstes, indonesisches Ich es für in Ordnung hält, sich erst nach dem groben Weltuntergang aufs Moped zu schwingen und zur Arbeit zu fahren. Das geht in Indonesien tatsächlich, was heißt, dass es gesellschaftlich legitimiert ist aufgrund schlechten Wetters zu spät zu kommen. Ich liebe die jam karet (Gummizeit), das indonesische Äquivalent zum Akademischen Viertel. Mein deutsches Ich hingegen findet, ich sollte lieber seit genau drei Minuten klatschnass im Büro sitzen, statt gerade diesen Text zu schreiben. Ein normaler, noch recht harmloser Zwiespalt. Die Entscheidung für diesen Morgen ist schnell getroffen: ich werfe mir den Mantel über und fahre los sobald der Regen schwächer ist.
Fast noch rechtzeitig im Büro angekommen, habe ich wieder nur einen Gedanken im Kopf, der mich seit Tagen umtreibt. Gehen oder Bleiben? Nein, wenn ich ehrlich bin, dann habe ich mich bereits entschieden. Ich werde fortgehen müssen. Oder anders formuliert: Ich kann weg und andere Menschen nicht. Weg von der Insel Nias, auf der ich seit zwei Monaten arbeite und lebe, alles wegen dieses Smogs (im Folgenden: Haze)! Zurück zum Anfang.
Im Blau des Indischen Ozeans sticht grün die Insel Nias hervor. Keine Wolke trübt den Blick auf die kleine Insel, die für die nächsten drei Monate mein zu Hause sein soll – auf der ich arbeiten und leben werde. Das winzige Flugzeug setzt sanft auf dem Boden des neuen Flughafens auf. Nias begrüßt mich mit strahlendem Sonnenschein. Ich werde von meiner zukünftigen Arbeitskollegin und einem Fahrer abgeholt, in der prallen Mittagshitze fahren wir nach Gunungsitoli. Seit diesem Tag, gab es noch genau einen weiteren, an dem vom Boden aus betrachtet der Himmel zu sehen war. Seit meiner Ankunft hat sich die Situation stark verschlimmert. Ich habe eine Atemwegserkrankung, die sich anfühlt wie eine schlimme Erkältung. Der Haze ist seit meiner Ankunft an präsent, mal mehr, mal weniger stark. Durch die körperliche Eingewöhnung, könnte man sich fast der Illusion hingeben, es handele sich lediglich um Schmuddelwetter.
Aber nur zur Erinnerung, ich befinde mich im tropischen Indonesien bei 25-30 Grad Celsius, am Ende der Trockenzeit. Was man erst als komische schwüle, anders riechende und schmeckende Luft wahrnimmt (anders als die ebenso graue, aber frisch und steife Hamburger Brise), wird in kürzester Zeit zum grauen Grauen des Gewohnheitsstiers Mensch. Der eigene Körper realisiert in kürzester Zeit nur noch eine gravierende Verbesserung oder Verschlechterung. Aber vielmehr als mit der trügerischen Lunge, erfasst man die Veränderungen visuell. Nach dem Aufstehen folgt ein routinierter Blick aus dem Fenster, so ganz nach dem Motto, wie weit kann ich denn heute schauen?
Der Ort, an dem ich arbeite, liegt direkt am Meer. So richtig mit der Angst zutun bekommen, habe ich es das erste Mal dort, als sich mir ein sehr mystisches Szenario darbot: Ich blickte auf das Meer, doch konnte ich den Horizont nicht mehr finden. Die Wellen- und Wind-Bewegungen zeichneten anmutige Muster auf die Oberfläche der Wand, gegen die ich schaute. Oben grau-weiß und starr und unten irgendwie beweglich. Meine Augen versuchten das Oben von dem Unten zu trennen, um den Horizont zu erahnen. Es gelang mir nur mit größter Mühe. Dann tauche aus dem Nichts ein kleines Fischerboot inmitten dieses Bildes auf, keine Ahnung wo es eigentlich herkam oder wo es hinfuhr. Mutig, dachte ich. Vielleicht hatten die Fischer keine andere Wahl. Ob an Land oder auf hoher See, wir saßen alle in einem Boot. Selbst mit der besten Kamera wäre es schwierig gewesen, einen solchen Augenblick festzuhalten. Was sich ebenfalls kaum visuell festhalten ließ waren die Asche-Partikel, die sich überall in den Schleimhäuten wie Augen, Nase, Mund und Hals absetzten. Meine Freunde klagten über ein Brennen in den Augen und Kopfschmerzen als Folge der schlechten Luft. Aussagen der Anwohner nach, war es komisch schwül wie kurz vor einem Regenguss, der aber ausblieb. Normalerweise richtete sich in Indonesien der gesamte Tagesablauf nach dem Lauf der Sonne. Diese jedoch lässt sich manchmal nur, zur Zeit ihres Zenits, als ein orange-runder Ball am Himmel erahnen. Alle Menschen, mich eingeschlossen, gehen gewohnt ihren alltäglichen Pflichten nach, fast ganz unbeirrt. Am Rande dessen wächst der Zweifel und auch die ökologischen und politischen Auswirkungen lassen sich nicht mehr ignorieren. Flüge sind mittlerweile durchgehend verspätet oder fallen ganz aus. Notfälle und kranke Menschen können deshalb nicht mehr schnell nach Medan ins nächstgelegene Krankenhaus fliegen, sondern müssen die Übernachtfähre in die Hafenstadt Sibolga, um daraufhin den weiten Landweg nach Medan zu nehmen. Unterm Strich steht so eine Flugstunde fast einem ganzen Tag Reisezeit gegenüber.
EXKURS: Im Jahr 2012 bereiste ich drei Monate lang die Provinz Jambi auf Sumatra. 3 Monate, 5 Kabupaten (administrative Distrikte) und 40 Dörfer. Eine Datenerhebung mit dem Zweck die Wertschöpfungskette der Monokulturen Palmöl und Kautschuk zu erfassen. Ein Thema, das in einem direktem Zusammenhang mit dem Haze 2015 steht. So kam es, dass ich zu jener Zeit fünf Stunden und länger im Projektauto saß, nur um ein und den selben landschaftlichen Ausblick zu sehen, namentlich großflächig angelegte Palmölplantagen. Man bekommt schnell ein Gefühl dafür, was der Handel mit Palmöl(kernen) bedeutet, wie er funktioniert und wie tief seine globalen Verstrickungen sind. Weiterhin, was für ein riesiges Netzwerk dahintersteckt und wie viel Profit sich damit für die Beteiligten machen lässt.
Mittagspause, zwölf Uhr. Während der Trockenzeit sind Waldbrände auf Sumatra nichts Außergewöhnliches. Doch dieses Mal ist es anders. Welches Ausmaß müssen die Brände haben, wenn der Haze bis nach Nias reicht? Ich erfuhr, dass die Menschen hier den Blick auf die rote Sonne bereits kennen, doch gewöhnlich nur ein bis zwei Wochen pro Jahr. Um mich herum werden viele krank. Bei den meisten Niassern, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern, stellen sich Erkältungssymptome ein. Die Nachrichtensender zeigen australische und russische Flugzeuge, die Wasserbomben werfen. Alle umliegenden mitbetroffenen Länder kooperieren freiwillig, weil auch sie wieder frei atmen wollen. Das, was im Moment passiert übersteigt jegliche, bisher wahrgenommene Norm. Der Flugverkehrt auf Nias liegt seit einer Woche komplett lahm. Es ist ein kleiner Flughafen ohne Beleuchtung, weshalb mindestens fünftausend Meter Sichtweite zum sicheren Landen nötig sind. Es fliegt kein Flugzeug von Nias weg, wenn nicht vorher eins aus Medan gelandet ist. So einfach ist das. Aber jetzt ist das Sichbewegen komplizierter – und es starten und landen keine Flugzeuge mehr. Der PSI - Wert (Wert für die Luftverschmutzung) in Medan war am Tag zuvor doppelt so hoch wie der Grenzwert der als extrem gesundheitsgefährdend eingestuft wird. Für Nias gibt es leider keine Zahlen. Den Medien nach wird es noch bis zu zwei Monate dauern, bis die Brände gelöscht sind.
Fünf Uhr nachmittags, Dienstschluss. Nachdenklich packe ich im Büro meine sieben Sachen zusammen. Auf dem Moped zurück durch Schlaglöcher fahrend, entlang der staubigen Betonwüste inmitten der rußigen Auspuffgase, plagt mich mein Gewissenskonflikt: Ich will das, was die anderen Menschen hier nicht können: weg! Ich muss also von dem in mir ohnehin schon innewohnen Vorteil des Weißseins und des Gastseins in diesem Land Gebrauch machen. Vier Tage später besteige ich die Fähre nach Sibolga.
- Anna-Carina Kruse